Vortrag vor dem SPD-Ortsverein Laudenbach/Bergstraße am 24. Mai 2024

Wiedergeburt der Demokratie – das Grundgesetz im Licht derdeutschen Demokratie- und Verfassungsgeschichte

Prof. erm. Dr. Peter Brandt

Am 23. Mai 2024 beging die Bundesrepublik Deutschland das 75-jährige Jubiläum des Grundgesetzes und damit ihrer Staatsgründung. Aus der Szene der sog. Reichsbürger kann man hören, das Grundgesetz sei gar keine richtige Verfassung. Sofern das auf den Namen bezogen wird, ist es mindestens irreführend. Die älteste gültige (wenn auch mehrfach ergänzte und geänderte) Verfassung Europas, die norwegische von 1814, heißt „Grunnloven“ = Grundgesetz. Allerdings wurde in Westdeutschland 1948/49 der Ausdruck „Grundgesetz“ bewusst gewählt, um etwas gegenüber einer Vollverfassung Niederrangigeres zu bezeichnen. Sofern man bei unserem Grundgesetz darüber hinaus ein Legitimitätsproblem sehen könnte, liegt es an dessen Entstehungsgeschichte (siehe weiter unten).

Verfassungen sind Grundordnungen des Staates, die im modernen Verständnis, also seit dem späteren 18. Jahrhundert, eine signifikante institutionelle Trennung zwischen der regierenden Exekutive, bis ins frühe 20. Jahrhundert überwiegend und teilweise bis heute in Europa mit monarchischer Spitze, und der gesetzgebenden (was dann auch das Haushaltsrecht betrifft) Legislative beinhaltet. Die Funktionsweise des staatlich organisierten Gemeinwesens ist dabei fest und beständig an das geregelte Zusammenwirken von Regierung und Volksrepräsentation gebunden. Bei Letzterer spielte in den meisten Staaten lange eine aus privilegierten Gruppen zusammengesetzte Erste Kammer neben der eigentlichen Volkskammer, ihrerseits zunächst mit stark beschränktem Wahlrecht, eine wichtige Rolle.

Verfassungsstaaten entwickelten sich erst in einem längeren historischen Prozess und nicht ohne heftige gesellschaftlich-politische Auseinandersetzungen zu Demokratien, wobei die Parlamentarisierung der Regierungsweise, also die Abhängigkeit der Regierung von den Mehrheitsverhältnissen im Parlament, der Demokratisierung des Stimmrechts für Männer (das Frauenwahlrecht setzte sich erst im 20. Jahrhundert sukzessive durch) überwiegend vorausging, anders als in Deutschland, wo es umgekehrt war. Hierzulande erfolgte die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts auf Reichsebene, nicht auf einzelstaatlicher und kommunaler Ebene, rund ein halbes Jahrhundert vor der Parlamentarisierung der Regierung, nämlich schon 1867/71. Die wichtigste treibende Kraft in beiden Prozessen war in den Jahrzehnten um 1900 europaweit übrigens die sozialistische Arbeiterbewegung, die namentlich im Deutschen Kaiserreich für Demokratisierung im staatlichen wie gesellschaftlichen Bereich eintrat. In mehreren europäischen Staaten
kämpfte die Arbeiterbewegung, auch in Massenstreiks, für die Erweiterung des Wahlrechts.

Dass das bundesdeutsche Grundgesetz nun 75 Jahre gilt und vermutlich noch Jahrzehnte weitergelten wird, ist – auch im internationalen Vergleich – bemerkenswert. Von den beiden früheren gesamtdeutschen
Verfassungen trat die Verfassung der Paulskirche, beschlossen am 28. März 1849, gar nicht erst in Kraft, und die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 fungierte, zuletzt mehr schlecht als recht, nur bis zum Winter 1932/33. Pro forma wurde sie vom NS-Regime übrigens nie aufgehoben, aber schon im März 1933 durch ein Ermächtigungsgesetz, sprich: die Einführung einer Regierungsdiktatur, unwirksam gemacht.

Die deutsche Verfassungsgeschichte im modernen Sinn, also als Geschichte des Konstitutionalismus, beginnt, nach Vorläufern in der napoleonischen Zeit, mit den Konstitutionen verschiedener der nach 1815
beinahe selbstständigen deutschen Fürstentümer. Die Verfassung des Großherzogtums Baden von 1818 galt als ein liberaler Pol, und der bedeutende Freiburger Professor und Parlamentarier Carl v. Rotteck formulierte gleichzeitig: „Ein Volk, das keine Verfassung hat, ist – im edlen Sinn des Wortes – gar kein Volk.“ Erst im Zuge der Ereignisse von 1848/49 kam dann auch der, neben Österreich, mit Abstand größte
deutsche Einzelstaat, das Königreich Preußen, zur Gruppe der Verfassungsstaaten, hinzu. Nach mehreren gegenreformerischen Änderungen bildete die preußische Verfassung innerhalb Deutschlands den konservativen Pol.

Da in diesen Jahrzehnten die Bewegung für politische Emanzipation, vor allem getragen vom Bildungsbürgertum, mehr und mehr auch von den breiten Bevölkerungsschichten, eng verknüpft war mit der Nationalbewegung, dem Bestreben, einen einheitlichen und im Innern freien deutschen Nationalstaat zu errichten, man sogar von einer annähernden Identität beider Bestrebungen sprechen kann, trat in der Revolution 1848, auch entstanden aus struktureller und konjunktureller Wirtschaftskrise im Übergang zum Kapitalismus und verschärfter Massenarmut, neben das Ziel der Liberalisierung der Verhältnisse sogleich das der Einigung Deutschlands.

Am 18. Mai 1848 kam in Frankfurt am Main erstmal eine nach einem annähernd allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht gewählte Deutsche Nationalversammlung zusammen. In den unterschiedlichen parlamentarischen Gruppen formierten sich Vorformen politischer Parteifraktionen; ebenso entstand an der gesellschaftlichen Basis ein ausgedehntes Publikationswesen und ein breites und differenziertes politisches Vereinswesen, mit der Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung auch schon eine frühe sozialdemokratischgewerkschaftliche Vereinigung. „Demokraten“ nannten sich damals
übrigens nur die relativ radikaleren, für uneingeschränkte Volkssouveränität eintretenden Gruppierungen.

Nach früherem US-amerikanischem und französischem Vorbild konzentrierte man sich 1848 in der Frankfurter Paulskirche zunächst auf die Erstellung eines umfassenden Grundrechte-Katalogs, über dessen
Inhalt man sich vergleichsweise einig war. In diesen Monaten verschob sich in den großen Einzelstaaten Deutschlands aber schon das politischgesellschaftliche Kräfteverhältnis zugunsten gegenrevolutionärer Kräfte, die nicht nachhaltig entmachtet, sondern nur zwischenzeitlich geschwächt und gelähmt waren. Die Frankfurter Nationalversammlung und ihre provisorische Reichsregierung hatten keine eigenen Machtmittel, und ihre gemäßigt-liberalen Fraktionen strebten eine „Vereinbarung“, mit den monarchischen Einzelstaaten an, einseitige Maßnahmen kraft revolutionären Rechts lehnten sie ab.

Die schließlich im interfraktionellen Kompromiss verabschiedete „Verfassung des Deutschen Reiches“ vom 28. März 1849 sollte einen Bundesstaat mit dem preußischen König als kaiserlichem Staatsoberhaupt verwirklichen; entstanden wäre eine im europäischen Vergleich ausgesprochen fortschrittliche konstitutionelle Monarchie mit dem wahrscheinlichen Machtschwergewicht im Parlament. Als Friedrich
Wilhelm IV. von Preußen es ablehnte, die Kaiserkrone aus der Hand der Volksvertreter entgegenzunehmen, war die Nationalversammlungsmehrheit am Ende ihres Lateins und gab auf. Preußische Truppen schlugen die zur Verteidigung der Reichsverfassung vor allem in Sachsen, in der Rheinpfalz und in Baden mit Waffengewalt sich erhebenden Republikaner und „Social-Demokraten“ mit eigentlich weitergehenden Zielen blutig nieder.

Trotz der vordergründigen Niederlage der Revolution samt der in Frankfurt beschlossenen Verfassung wurde in der Behördenorganisation, der Rechtspflege und der einzelstaatlichen Verfassungsentwicklung, der Judenemanzipation, der Vollendung der Agrarreformen und der Wirtschaftspolitik das Rad nicht einfach zurückgedreht. Der von der Nationalversammlung 1848/49, also von den gewählten Vertretern der deutschen Gesamtnation, erhobene Anspruch auf Einheit in Freiheit ließ sich angesichts des gewaltigen Politisierungsschubs der Revolutionsmonate nicht mehr aus den Köpfen verbannen. Und dass der als „Reichsgründer“ von 1871 bezeichnete preußische Ministerpräsident seit 1862, Otto von Bismarck, mit der Einführung des demokratischen Wahlrechts von 1849 auf Reichsebene meinte, an die liberalen und demokratischen Bestrebungen in der Gesellschaft appellieren zu sollen, und dass das Kaiserreich von 1871 – bei allen obrigkeitsstaatlichen Einschränkungen – erstmals in der deutschen Geschichte einen nationalen Verfassungsstaat schuf, ist ohne die Ereignisse von 1848/49 schwer vorstellbar.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Zeit, da Deutschland zu einem wirtschaftlich und wissenschaftlich hochmodernen Industriegiganten und avancierten „Kulturstaat“ heranwuchs. Es ist unter
Historikern viel diskutiert worden, ob die staatliche Verfassung des Kaiserreichs ohne Kriegsniederlage und Novemberumsturz 1918 hätte demokratisch weiterentwickelt werden können. Hier reicht es festzuhalten, dass zwar insbesondere ein Bedeutungszuwachs des Reichstags und der inzwischen fest etablierten Parteien nicht zu übersehen ist, ohne dass aber der Schritt zur parlamentarischen Regierungsweise erfolgte; das bewirkte – nach letzten Reformversuchen der Monarchie im Herbst 1918
angesichts der hoffnungslosen militärischen Lage – erst die Revolution 1918/19, die zu allererst ein Aufstand der Arbeiter und Soldaten gegen die Fortsetzung des offenkundig verlorenen Krieges war.

Es ist allgemein bekannt, dass die relative Einheit der mit der antimilitaristischen und auf Demokratisierung gerichteten Rebellion des November 1918 schon um die Jahreswende 1918/19 an internen Gegensätzen der Trägergruppen zerbrach. Diese führten dann sogar zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, in denen direkt gegenrevolutionäre Kräfte wieder Einfluss gewinnen konnten. Doch entsprechend dem schließlich gescheiterten Versuch von 1848/49 wählten die Deutschen im Januar 1919 eine verfassunggebende Nationalversammlung. Auch in Addition blieben die Mehrheitssozialdemokraten mit 37,9% der Stimmen und die wegen unterschiedlicher Haltungen zum Krieg seit 1917 verselbstständigten Unabhängigen Sozialdemokraten mit 7,6% der Stimmen trotz gegenüber der letzten vorausgegangenen Reichstagswahl beachtlicher Stimmengewinne unterhalb einer eigenen Mehrheit, und so bildete die SPD mit der katholischen Zentrumspartei und der liberalen Deutschen Demokratischen Partei die sog. Weimarer Koalition; deren überragende Mehrheit ging allerdings schon bei der ersten regulären Reichstagswahl im Sommer 1920 verloren.

Die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919, entworfen von dem linksliberalen Staatsrechtler Hugo Preuß, galt zu Recht als eine der fortschrittlichsten der damaligen Zeit, auch wenn große Teile der
Arbeiterschaft weitergehende Ziele verfolgten. Dabei sind neben der definitiven Abschaffung der Monarchie und der jetzt eindeutig parlamentsabhängigen Regierung das nun proportionale, auf Männer auch unter 25 Jahren und Frauen ausgedehnte Wahlrecht für alle staatlichen Vertretungskörperschaften, zudem die (wegen hoher Hürden in der Praxis weniger relevante) Möglichkeit direkter Volksgesetzgebung
durch Plebiszit und auch die Stärkung der unitarischen Komponente im Staatsaufbau gegenüber der föderalen zu nennen. Problematisch, wie sich dann vor allem in der Endphase der Republik zeigte, war die starke Stellung des volksgewählten Reichspräsidenten, der Teil der Exekutive war, mit seinem Notverordnungsrecht.

Wie 1849 enthielt die Verfassung von 1919 einen umfangreichen Grundrechtekatalog, der – eher programmatisch – auch eine Reihe gemeinwohlorientierter und sozial akzentuierter Ziele republikanischer
Gesellschaftspolitik beinhaltete. Der sozialdemokratische Staatsrechtler Hermann Heller vertrat einige Jahre später sogar die Auffassung, nicht ein Deut an diesem Verfassungstext müsste geändert werden, um über eine Parlamentsmehrheit eine sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung einzuführen.

Die Historiker und die historisch arbeitenden Juristen sind heute ganz überwiegend der Meinung, dass die Weimarer Republik jedenfalls nicht an einer fehlerhaften Verfassung gescheitert sei und sie betonen stärker als vor Jahrzehnten, dass die Republik nicht von Anfang an zum Untergang verurteilt gewesen sei – trotz enormer Belastungen, angefangen mit einem tatsächlich diktierten, drückenden, inhaltlich über das ganze politische Spektrum abgelehnten Friedensvertrag und einer nicht erst in der weltweiten großen Krise ab Herbst 1929 schwierigen Wirtschaftslage. Belastend war vor allem die gegenüber der demokratischen Verfassungsordnung skeptische bis klar ablehnende Haltung der Eliten in der Hochfinanz und in der (vor allem Schwer-)Industrie, dem Großgrundbesitz, dem Offizierskorps, der hohen Bürokratie, auch der beamteten (namentlich Gymnasial- und Hochschullehrer) und auch freiberuflichen Intelligenz. Eine „Republik ohne Republikaner“, wie man schon zeitgenössisch formulierte, war Deutschland 1919 bis 1932 nicht. Ereignisse wie der erfolgreiche Generalstreik gegen den Kapp-Lüttwitz- Putsch vom März 1920 und die überparteilichen Massenproteste gegen die Ermordung von Matthias Erzberger und Walther Rathenau, bürgerlich demokratischen Politikern, zeugen von einer aktiven Massenbasis der demokratischen Republik vor allem, aber nicht nur in den Anfangsjahren, wenngleich sich viele Republikaner auf dem linken Flügel die Republik anders wünschten als sie war.

Wir dürfen die Weimarer Republik nicht nur als Vorgeschichte des „Dritten Reiches“ betrachten; sie ist ein wichtiger Teil der deutschen Verfassungsund Demokratiegeschichte und gehört insofern auch zur demokratischen Vorgeschichte der Bundesrepublik. Es ist hier nicht der Ort, darzulegen, woran die Republik von Weimar letztlich zugrunde gegangen ist. Zum bereits Gesagten nur noch der Hinweis, dass zwei Wählerkategorien bis zum Schluss dem Werben der NSDAP gegenüber ziemlich unzugänglich
blieben: erstens die Anhänger der – untereinander verfeindeten – sozialistischen Arbeiterparteien SPD und KPD mit per Saldo 36 bis 37% der Stimmen bei Reichstagswahlen, allerdings bei einer seit 1930
anhaltenden Verschiebung nach links zu den Kommunisten (ohne dass diese auf Reichsebene jemals vor der SPD lagen), und zweitens der politische Katholizismus, also die Zentrumspartei und die Bayerische
Volkspartei, mit zusammen etwa 15%, die sich spätestens seit 1930 aber deutlich von der Demokratie, wenngleich nicht vom Rechtsstaat, entfernten. Die liberalen Parteien sind bis 1932 zugunsten der radikalfaschistischen Rechten hingegen regelrecht pulverisiert, die Rechtskonservativen stark reduziert worden. Und zusätzlich schöpfte die NSDAP stark aus der Mobilisierung bisheriger Nichtwähler.

Der eingangs gegebene Hinweis auf ein Legitimitätsproblem des Grundgesetzes, das von den Verfassungsvätern (samt einigen wenigen -müttern) auch empfunden wurde, bezieht sich auf sein Zustandekommen im Auftrag der westlichen Besatzungsmächte; diese sahen keine Möglichkeit einer die Sowjetzone einschließenden Lösung für Deutschland mehr und wollten sie auch nicht mehr sehen. Das bedeutete, den ersten Schritt zur formellen Teilung Deutschlands zu machen. Und deshalb waren es vor allem die deutschen Politiker – und in erster Linie die sozialdemokratischen – die den provisorischen Charakter der westdeutschen Staatsgründung betonten und auch keine Nationalversammlung und keine Volksabstimmung über das Grundgesetz wünschten. Die meisten der (in der Regel eher konservativen) deutschen Staatsrechtler vertreten heute die Meinung, dass dieser Entstehungsmangel des Grundgesetzes – weder über die Wahl einer speziellen verfassunggebenden Versammlung vorbereitet noch nachträglich durch Plebiszit bestätigt – über langjährigen Gebrauch, auch durch die 1955 noch begrenzte, aber 1990 dann komplette Erlangung der staatlichen Souveränität und durch die zunehmend breite Akzeptanz im Volk gewissermaßen geheilt worden sei.

Es ging bei den Grundgesetz-Diskussionen 1948/49 also nicht zuletzt auch um die gesamtdeutsche Dimension des Vorgangs durch Ausschluss der Ostzone, aber mit der Perspektive einer künftigen gemeinsamen Verfassungsgebung (Art. 146) bzw. der Möglichkeit des Beitritts weiterer deutscher Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Art. 23. Die Gründungsverfassung der im Oktober 1949 proklamierten DDR war, enger als das Grundgesetz, an die Weimarer Verfassung angelehnt und
im Wortlaut durchaus demokratisch – die diktatorische Praxis sah schon ganz anders aus. Im Unterschied zum Grundgesetz galt die DDR-Verfassung von 1949 nicht geografisch begrenzt; laut ihrer Präambel hatte
„das deutsche Volk“ schlechthin sie sich gegeben. Hervorgegangen war sie aus der gesamtdeutsch gemeinten Volkskongress-Bewegung. In den 1950er und abgeschwächt in den 60er Jahren gab es also eine innerdeutsche Kontroverse, die sich auch in dem jeweiligen Verfassungstext niederschlug, darüber, welcher der beiden Staaten als deutscher Kernstaat in seiner Existenz die Interessen der ganzen deutschen Nation vertrat. Erst um 1970 entdeckte die SED, dass es inzwischen zwei deutsche Nationen gäbe. Diese Doktrin antwortete auf die neue Ost- und Deutschlandpolitik der sozial-liberalen Bonner Koalition,
die mit ihrer Formel von zwei deutschen Staaten einer Nation an die frühere, in der zweiten DDR-Verfassung von 1968 noch einmal festgeschriebene Position der SED anzuknüpfen versuchte.

Die Verfassungsfrage als eine gemeindeutsche erhielt noch einmal praktische Relevanz, als 1989/90 der stürmische Wandel im ganzen Ostblock und namentlich die revolutionär-demokratische Volksbewegung
im Osten Deutschlands zum Zusammenbruch der bestehenden Ordnung in der DDR führten und die Forderung nach einer schnellen und (vermeintlich) unkomplizierten Wiedervereinigung seit der Maueröffnung am 9. November 1989 immer lauter wurde. Als die CDU-geführte Wahlallianz am 18. März 1990 die Wahlen in der DDR gewann, war die Grundentscheidung für die Beitrittslösung faktisch schon gefallen, wie sie dann im Einigungsvertrag geregelt wurde. Auch die in der Bundesrepublik-West bestimmenden Kräfte wollten keineswegs, dass die Grundfragen des staatlichen Zusammenlebens oder gar der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Ordnung Gegenstand einer breiten Debatte würden. Ein seit Dezember 1989 vom Zentralen Runden Tisch, wo Vertreter der oppositionellen Bürgerrechtsgruppen und der etablierten Organisationen, namentlich der SED, zusammensaßen, erarbeiteter, gegenüber dem Grundgesetz gewissermaßen „linkerer“ Verfassungsentwurf für die DDR, wurde von der neugewählten Volkskammer sogleich verworfen. Er hätte bei weiterer Behandlung in einer gesamtdeutschen Verfassungsdebatte wohl irgendwie mitberücksichtigt werden müssen. Formal war die Beitrittslösung
verfassungskonform; gemessen an den Beratungen und Beschlüssen von 1948/49 entsprach sie wohl nicht dem ursprünglichen „Geist“ des Grundgesetzes.

Zurück zur Ausgangssituation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Der politische Neubau unter Kontrolle der Besatzungsmächte begann in den Gemeinden und Ländern, wo zunächst Verfassungen erarbeitet wurden, so z.B. schon 1946 im Land Hessen. Die Sozialdemokraten, diesbezüglich unterstützt von den noch nicht irrelevanten Kommunisten und anfangs im westdeutschen Durchschnitt etwa gleichstark wie die Christdemokraten, zunächst auch Teile der CDU, traten damals dafür ein, profunde antifaschistische und antikapitalistische Strukturreformen in die Länderverfassungen einzubringen: Einerseits wurde bis weit ins Bürgertum eine starke Verantwortung des Großkapitals für den Hitler-
Faschismus gesehen; andererseits zweifelte man an der sozialen und ökonomischen Möglichkeit eines Wiederaufbaus unter den bestehenden Eigentumsverhältnissen. Der spätere prosperierende und sozialstaatlich regulierte Kapitalismus mit seinem bislang ungeahnten Wohlstandszuwachs auch für die untere Hälfte der Bevölkerung lag noch außerhalb der Vorstellungskraft. Die in den ersten Jahren nach 1945 in westdeutschen Länderverfassungen verankerten Mitbestimmungs- und Sozialisierungsartikel, teilweise in Volksabstimmungen untermauert, wurden von der amerikanischen Militärregierung oder auf deren Veranlassung suspendiert und dann durch die überregionale Staatsbildung Westdeutschlands überholt.

Die SPD unter der energischen Führung Kurt Schumachers stand in der Tradition des deutschen Einheitsstaats, während die Mehrheit der CDU (und allemal der CSU) für eine deutliche Stärkung der Länder im Vergleich zur Weimarer Verfassung eintrat, was auch ein Anliegen der westalliierten Militärregierungen war. Am Ende drohte Schumacher sogar mit Ablehnung des Grundgesetzes durch die Sozialdemokratie, wenn nicht die Finanzhoheit des Bundes gesichert würde, was dann geschah. Der am Ende moderate Föderalismus – verglichen mit der Schweiz oder den USA – schien hinnehmbar. Ferner verzichtete die SPD darauf, wie es in etlichen Länderverfassungen ansatzweise geschehen war, einen Auftrag zur demokratisch-sozialistischen Gesellschaftsveränderung in das Grundgesetz zu schreiben, während die liberal-konservativen Parteien davon absahen, eine solche Möglichkeit im Grundgesetz auszuschließen. Bis in die späten 1950er Jahre hofften die Sozialdemokraten, und das war damals keineswegs abwegig, auf kurzfristig veränderte Mehrheitsverhältnisse in gesamtdeutschen Wahlen mit dann neuer Verfassungsgebung und mit der Möglichkeit, ihr Programm unter diesen Umständen zu realisieren. – Nach wie vor ist übrigens das Grundgesetz in der Frage der Wirtschaftsverfassung nicht auf den Vorrang privatwirtschaftlicher Eigentumsformen festgelegt.

Zwischen dem grundsätzlichen Beschluss der angelsächsischen Siegermächte, die außer dem nachträglich zur vierten Sieger- und Besatzungsmacht erhobenen Frankreich auch die Benelux-Staaten hinzuzogen, einen trizonalen westdeutschen Staat zu schaffen (Londoner Konferenz Februar bis Juni 1948) und der Verabschiedung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat lag gut ein Jahr. In dieser Zeit spitzte sich nicht nur der Ost-West-Gegensatz zum Kalten Krieg zu – die Sowjetunion antwortete auf die separate Währungsreform in den Westzonen im Juni 1948 mit der Blockade der Westsektoren Berlins; zugleich verschoben sich die innenpolitischen Kräfteverhältnisse im Westen Deutschlands zugunsten der wirtschaftsliberalen und unternehmerischen Kräfte, offenkundig zutage tretend bei der Durchführung der Währungsreform, die die Sachwertbesitzer deutlich begünstigte; auch die Marshallplan-Hilfe der USA war ordnungspolitisch nicht indifferent (und schon gar nicht uneigennützig).

Der innerdeutsche Prozess der Hervorbringung des Grundgesetzes begann am 1. Juli1948 mit der Entgegennahme von Richtlinien der drei westalliierten Militärgouverneure durch die Landesministerpräsidenten. Über die Bildung eines aus Experten bestehenden Verfassungskonvents und die Wahl eines Parlamentarischen Rates durch die Landtage gemäß der jeweiligen Bevölkerungsanzahl – an die Spitze des Gremiums wurde der frühere Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer (CDU) gewählt, während den Hauptausschuss der Sozialdemokrat Carlo Schmid leiten würde – traten die deutschen Akteure ins Zentrum des Geschehens, ohne sich von den Vorgaben der Besatzungsmächte einfach lösen zu können. Mehrfach stand das Zustandekommen des Grundgesetzes auf der Kippe, weil die Differenzen zwischen den Wünschen der Alliierten und denen der Deutschen unüberbrückbar schienen. Dabei ging es u.a. um die Einrichtung einer Internationalen Ruhrbehörde. Frankreichs Vorstellungen der Verfassungsgebung liefen eher auf einen lockeren Bund der westdeutschen Länder als auf einen funktionierenden Bundesstaat hinaus. Das schien aber nicht nur den deutschen Beteiligten, sondern auch den USA und Großbritannien kontraproduktiv, die die Bedeutung Westdeutschlands für die wirtschaftliche Neuordnung und politische Formierung Westeuropas im Auge hatten. Deutschland stand auch in den Westzonen weiterhin unter Besatzungsrecht; die Alliierten behielten sich das Recht vor, direkt zu intervenieren, falls ihre Ziele und Interessen gefährdet würden. Auch den deutschen Beteiligten schien es wichtig, dass durch ein westalliiertes Besatzungsstatut die Verteilung der Kompetenzen eindeutig erkennbar war.

Dieses alles in Rechnung gestellt, hat der Parlamentarische Rat mit der Arbeit am Grundgesetz eine sehr beachtliche – und man darf sagen: erfolgreiche – Verfassung hervorgebracht. Obwohl dieses nur durch die Kriegsniederlage NS-Deutschlands möglich war, wäre es verkehrt, das Grundgesetz als westalliiertes Oktroi oder Geschenk (je nach Blickwinkel) aufzufassen. Es wurde in deutscher Verfassungstradition und in bewusster Auseinandersetzung mit den historischen Erfahrungen, hauptsächlich denen der Weimarer Republik, ausgearbeitet. Deshalb kann der heute vielfach angemahnte deutsche Verfassungspatriotismus auch nichts von territorialen, kulturellen und nationalen Bezügen Losgelöstes sein, wenn der Begriff nicht sinnlos werden soll.

Unter den 65 Mitgliedern des Parlamentarischen Rates waren etliche Juristen bzw. Staatsrechtler mit einer speziellen Kompetenz in Fragen des Verfassungsrechts. Da der Altersdurchschnitt bei Mitte 50 lag, teilten die meisten von ihnen persönliche Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik und teilweise des späten Kaiserreichs, waren nicht nur vereinzelt schon vor 1933 Parlamentsabgeordnete auf Reichs- oder Länderebene bzw. waren anders politisch tätig gewesen. Nicht wenige waren im Widerstand oder im Exil gewesen, einige im Konzentrationslager.

Die negativen Bezugspunkte waren natürlich das Scheitern der Weimarer Republik und die nationalsozialistische Terrorherrschaft. Wohl mit Blick darauf hat man die Grundrechte an die Spitze des Grundgesetzes gestellt und jene konkreter als früher ausgeführt. Sie sind von da an unmittelbar geltendes Recht und damit einklagbar. Wichtig, aber eher von programmatischem Charakter, ist der Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar…“ und „Das deutsche Volk bekennt sich … zu unveräußerlichen und unverletzlichen Menschenrechten“. Deutlicher als in der Weimarer Verfassung ist im Grundgesetz, wie erwähnt, die föderative Gliederung des Staates etabliert, ebenso der repräsentative Charakter der
Demokratie, sprich: der bewusste Verzicht auf Volksentscheid und Volksbegehren auf Bundesebene. Nur bei der Neubildung bzw. Neuordnung von Bundesländern, so praktiziert 1952 bei der Fusion von Nordwürttemberg-Nordbaden in der amerikanischen Besatzungszone mit den Ländern Württemberg-Hohenzollern und Südbaden in der französischen Zone und 1996 beim gescheiterten Zusammenschluss von Berlin und Brandenburg, kann das Wahlvolk direkt entscheiden. Generell ist festzustellen, das der Föderalismus durch die Auflösung des übergroßen Landes Preußen 1947 einen ausgeglicheneren Charakter bekommen hat. Zugleich hat sich die funktionale Trennung zwischen Bund und Ländern durch den im Lauf der Jahrzehnte immer deutlicher werdenden Vorrang der gesamtstaatlichen Gesetzgebung einerseits, die Mitwirkung der Länder daran über den Bundesrat andererseits als gewissermaßen hinkend erwiesen, weshalb zwischen 1991 und 2009 drei parlamentarische Föderalismus-Kommissionen eingerichtet worden sind.

Zusammen mit der Republik und dem Sozialstaat sowie – vorrangig – mit der Menschenwürde, dem Demokratieprinzip und der Rechtsstaatlichkeit gehört die Bundesstaatlichkeit zu der unveränderbaren, auch mit der für eine Neufassung einzelner Bestimmungen ansonsten erforderlichen Zweidrittelmehrheit der Parlamentarier nicht zu verändernden Kernsubstanz der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“. Das hat das Bundesverfassungsgericht, dessen starke Stellung als Schiedsrichter über die Auslegung der Verfassung und die Verfassungskonformität von Gesetzen ebenfalls eine Neuerung darstellt, in mehreren Urteilen über die Jahrzehnte festgelegt. Über die Rolle dieses obersten Gerichts lässt sich unter demokratietheoretischen wie -praktischen Gesichtspunkten durchaus diskutieren.

Neu und wichtig ist ferner die Benennung der unverzichtbaren Funktionen der politischen Parteien im Verfassungsgefüge. Umgekehrt unterwerfen Grundgesetz und dort vorgesehenes Parteiengesetz diese Akteure, also die Parteien, bestimmten Anforderungen, die nicht nur die Haltung zur „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ betreffen. – Vor allem dem Einsatz der einzigen sozialdemokratischen weiblichen Abgeordneten und deren Unterstützerinnen im Parteiapparat ist die Festschreibung der Gleichberechtigung der Geschlechter in Art. 3 zu verdanken; es sollte in Westdeutschland allerdings noch lange dauern, bis aus dieser programmatischen Aussage in verschiedenen Schritten praktische Realität
wurde.

Was die Regierungsweise im engeren Sinn betrifft, so stehen zwei Veränderungen gegenüber der Weimarer Reichsverfassung im Mittelpunkt: Zunächst ist der nun nicht mehr volksgewählte Bundespräsident fast ausschließlich auf eine repräsentative Rolle beschränkt. Und die dadurch schon gegebene Aufwertung der Position des Bundeskanzlers wird noch erheblich verstärkt durch dessen Wahl durch den Bundestag, die Richtlinienkompetenz im Kabinett und vor allem durch das nur konstruktiv, also nur durch Wahl einer anderen Person, mögliche Misstrauensvotum. Dieses ist erfolgreich nur einmal praktiziert worden: im Oktober 1982, beim Übergang der Kanzlerschaft Helmut Schmidts zu der Helmut Kohls durch Koalitionswechsel der FDP.

Die Vorstellung, das Grundgesetz sei ein Ergebnis westalliierter Entscheidungen, ist insofern zutreffend, als insbesondere die USA spätestens seit Anfang 1948 den deutschen Weststaat wollten. Erarbeitet wurde dessen lange als provisorisch verstandene Verfassung in mehreren Stufen überparteilich von Deutschen in deutscher Verfassungstradition, in vielerlei Hinsicht insbesondere an die Weimarer Verfassung anknüpfend. Dabei wurde, im Großen und Ganzen plausibel, versucht, einzelne Mängel des Werks der Weimarer Nationalversammlung von 1919 zu vermeiden. Der Rest liegt bei uns, dem Volk der Demokratie, dem Demos. Dabei gilt es, nicht nur autoritäre, antipluralistische und regressive Auffassungen, wie sie vor allem Rechtsaußen zuhause sind, zurückzudrängen. Als schädlich erweist sich auch eine heute weit verbreitete Vorstellung von Freiheit, die fast ausschließlich auf die ungehinderte Entfaltung und Bewegungsfreiheit des Individuums gerichtet ist. Gerade die Demokratie braucht aber eine Grundeinstellung, die am Gemeinwohl orientiert ist.

Es ist offenkundig, dass das Zusammenleben in unserer Gesellschaft nicht allein durch die geschriebene Staatsverfassung bestimmt wird: Der seit viereinhalb Jahrzehnten, auch durch bewusste politische Entscheidungen, weltweit wieder entfesselte, finanzmarktgesteuerte Kapitalismus mit den typischen Merkmalen der Deregulierung, Haushaltskürzungen, Privatisierung des Öffentlichen und Steuersenkungen für die großen Unternehmen, hat nicht nur die soziale Polarisierung vorangetrieben; es hat in diesem Zusammenhang die geradezu obszöne Zusammenballung privaten Reichtums in der Hand der Superreichen ein demokratiegefährendes Ausmaß erreicht. Die reichsten 45 Familien besitzen in unserem Land so viel die unteren 50%. Durch den immer mehr perfektionierten Lobbyismus, auch durch direkte und indirekte Korruption bedroht das Große Geld die wesentlichen Institutionen der parlamentarischen Demokratie.

Die im Grundgesetz ja aufgewerteten Parteien (wie auch andere große Verbände) haben aus sich selbst heraus seit jeher oligarchische Tendenzen entwickelt, die seit nun schon längerer Zeit mit Mitgliederschwund, Überalterung, Stärke- und Bedeutungsverlust einhergehen. Anders als in früheren Epochen ist der politische Protest, auch der soziale Protest, in Europa (und so auch in Deutschland) heute
vorwiegend rechtspopulistisch konnotiert. Den verbreiteten Unmut beantworten nicht wenige im Mitte-links- und im linken Spektrum mit moralisierenden Vorwürfen und mit obrigkeitlich-repressiven Phantasien, anstatt zunächst zu fragen, wo im Falschen der fehlgeleiteten Proteste etwas Richtiges (im Sinne von Beachtenswertes) verborgen ist. Die großen Demonstrationen gegen Rechtsaußen in letzter Zeit sind ein ermutigendes Zeichen. Aber liegt nicht eine der wesentlichen Ursachen
des übernationalen Rechtstrends bei den herrschenden Eliten (nicht nur den politischen) selbst, die kein überzeugendes und handhabbares Angebot für die Inangriffnahme der die Menschen bedrängenden
Probleme unterbreiten? Über die Hälfte der Deutschen meint, es ginge hierzulande eher ungerecht zu, und im Osten der Republik erlebt die Mehrheit die Bundesrepublik als Scheindemokratie, im Westen immerhin eine sehr große Minderheit. Dazu trägt zweifellos auch das immer noch erhebliche Demokratiedefizit der EU-Institutionen in ihrer Abgrenzung zu denen der Nationalstaaten bei. Das ließe sich bei entsprechendem politischen Willen ändern.

Auch mit den besten Institutionen und rechtlichen Regelungen, der klügsten Verfassung kann Demokratie nicht aus sich heraus funktionieren; darauf hat der kürzlich verstorbene Soziologe und Nestor der kritischpolitischen Erwachsenenbildung Oskar Negt hingewiesen: „Demokratie ist die einzige politisch verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss – nicht ein für allemal, so als könnte man sich einen gesicherten Regelbestand anlegen, der für ein ganzes Leben ausreicht, sondern immer wieder, in tagtäglicher Anstrengung und bis ins hohe Alter hinein.“

(Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 3/2008, S. 41)